TATORT Kultur

TATORT Kultur: Atelier Gespräche II
Faszination Orient

Interview im Mozarteum mit Yu Kosuge und Hansjörg Schellenberger anläßlich ihrer Japantournee mit der Camerata Salzburg

Am Ende muss es die Musik alleine sein und nicht die Menschen, die sie machen, und nicht der Ort, nicht die Show. Die Musik alleine muss wirken – das ist der entscheidende Punkt. (Hansjörg Schellenberger)

 

Wie sprichwörtlich ist heute ein ‚Camerata-Klang‘, wie er unter Sandor Végh geboren wurde? Lassen Hansjörg Schellenberger, herausragender Oboist, erfahrener Dirigent und eloquenter Gesprächspartner, sowie Yu Kosuge, die junge erfolgreiche, an der Universität Mozarteum ausgebildete Pianistin, sich davon beseelen und bringen auch eigene Sichtweisen, persönliche Farben ein?

»Faszination Orient« steht für ein hoch interessantes Programm, das Mozarts intellektuell bestimmte, integrale Schaffensweise geradezu exemplarisch vorführt. Denn auch wenn er in sämtlichen zu seiner Zeit gesuchten Gattungen komponierte – seine liebste, die Oper, vergaß er nie ganz. Sein unglaubliches Talent, sich Populäres – wie die »Türkische Musik« – ebenso wie Sublimes – wie den Bläsersatz der »Harmoniemusik« für Holzblasinstrumente – zu eigen zu machen, gibt seinen Werken jene Individualität, die Dirigenten, Solisten, Orchester in jeder Aufführung neu zu beweisen haben.

THOMAS HOCHRADNER

 

DIE WEITE WELT, DIE HERAUSFORDERUNG UND DAS WIEDERSEHEN

Väterliches Schulterklopfen. Hansjörg Schellenberger schätzt, fördert die junge Pianistin Yu Kosuge. Erste gemeinsame Erfahrungen liegen hinter ihnen, eine gemeinsame Japan-Tournee steht bevor. Zwischenzeitlich ein Konzert in Salzburg. Die Camerata academica hat die beiden engagiert. Internationaler Konzertbetrieb, Agenturen, Künstlerfreundschaft, animierende Begegnung. Hansjörg Schellenberger mit seiner reichen Erfahrung als Musiker und Musikpädagoge, der gerne und zu Recht darauf hinweist, dass er von Anbeginn seiner Laufbahn auch als Dirigent gewirkt hat. Der die besondere Note seiner Arbeit mit Wissen über das Musikgeschäft ebenso wie über eine profunde Auseinandersetzung mit den musikalischen Werken aufspürt. Yu Kosuge mit einem in ihrer Jugend erstaunlich breiten Repertoire, die nie einen renommierten internationalen Wettbewerb gewonnen und es dennoch geschafft hat, heute zu den großen pianistischen Hoffnungen gezählt zu werden. Trotzdem, mehr als Station auf Wanderschaft, auch ein Wiedersehen: Yu hat an der Universität Mozarteum studiert, Schellenberger wohnt nicht weit von Salzburg im bayerischen Seengebiet. Die Momentaufnahme eines Fast-zuhause-Seins, seltenes Glück der Karriere.

THOMAS HOCHRADNER UND MICHAELA SCHWARZBAUER
Im Gespräch mit Yu Kosuge und Hansjörg Schellenberger

Thomas Hochradner: Herzlich willkommen zu einem Atelier Gespräch in Kooperation mit der Camerata Salzburg mit zwei sehr prominenten Gästen: Hansjörg Schellenberger und Yu Kosuge. Wenn Sie jetzt wieder zurück in Salzburg sind, Yu, freut es Sie, hier Mozart zu spielen?

Yu Kosuge: Ich habe hier zehn Jahre gewohnt. Wenn ich das Regenwetter sehe, dann denke ich: »Ich bin wieder in Salzburg«. Es ist immer wunderbar, vor allem mit der Camerata, mit Herrn Schellenberger, Mozart zu spielen. Ich habe seit meiner frühen Jugend immer wieder die Aufnahmen mit Sándor Végh, der Camerata Salzburg und András Schiff gehört und Konzerte der Camerata Salzburg besucht, und ich wollte immer mit ihnen spielen. Jetzt ist mein Traum in Erfüllung gegangen, und ich freue mich sehr darüber, nicht nur ein Konzert, sondern acht Klavierkonzerte zu spielen.

TH:
Und Hansjörg Schellenberger ist der Vater des Geschehens …

Hansjörg Schellenberger: Nicht ganz, nein, der wirkliche Vater des Geschehens ist Lutz Hochstraate, der damals als Geschäftsführer der Camerata Yu einbrachte bei der Überlegung, wer als Solist nach Japan mitfahren soll – in die große Sumida Tryphony Hall in Japan, wo das New Japan Philharmonic Orchestra seine Heimat hat. Wir haben zusammen im Februar eine Produktion mit zwei Mozart-Klavierkonzerten (KV 466 und 482) gemacht. Die ist gerade in Japan bei Sony herausgekommen, begleitend zu unserer Tournee. Trotz der schwierigen Organisation und Finanzierung ist es eine wunderbare CD geworden. Ich habe mir auch verschiedene andere Aufnahmen angehört, und wir müssen uns nicht verstecken.

Michaela Schwarzbauer: Ganz sicher nicht! Nun müssen wir auch den ‚Fast-Vater‘ vorstellen. Hansjörg Schellenberger, wenn man auf Ihre Homepage blickt, wird der Weg vom Oboisten über den Orchestermusiker hin zum Dirigenten gezeigt. Es hat aber auch immer wieder Überlappungen gegeben, es hat sich nicht alles so peu à peu hintereinander vollzogen. Wer ist nun dieser Hansjörg Schellenberger?

HS: Ich habe schon als junger Mensch viele Dinge gemacht: Ich habe Oboe gespielt, ich habe früher Blockflöte gespielt, habe ein bisschen komponiert – so wie viele junge Menschen. Ich habe mit der Oboe als Siebzehnjähriger den ersten Jung-Musizier-Preis, den es in Deutschland damals gab, ergattert. Ich verbrachte dann zehn Wochen in Amerika in einem Musik-Camp, wo ich sehr viel gelernt habe. In dieser Zeit habe ich auch einen Dirigierkurs besucht und einen Wettbewerb gewonnen.

Mit zarten 17 Jahren durfte ich als Abschluss die Coriolan-Ouvertüre von Beethoven dirigieren, was natürlich völlig ‚hirnrissig‘ ist, denn das kann man in dem Alter noch gar nicht verstehen. Aber es hat technisch geklappt und war sehr nett. Damals ging mein Weg schon ein bisschen in Richtung Musik als Lebensinhalt. Dann kam ein Erlebnis: Regensburger Stadttheater, Aushilfe bei Eugen Onegin, zwei Proben – und ich bin geschwommen wie ein Weltmeister, es war furchtbar. Da habe ich gesagt: »Also nein, das ist doch nicht dein Beruf«. Ich habe mich entschlossen, Mathematik zu studieren. Nebenbei habe ich weiterhin bei meinem damaligen Oboenlehrer Manfred Clement, der an der Musikschule in München war, Unterricht genommen. Damals gründeten gerade die Komponistenschüler der Klassen Bialas, Genzmer und Killmayer die Reihe »Musik unserer Zeit«. Sie haben mich und einen anderen Freund und Fagottisten gefragt, ob wir nicht mitmachen wollten. Wir haben so ungefähr alles gespielt, was die Komponisten damals für die Oboe und das Fagott hervorgebracht haben. Irgendwann haben mich die Professoren Bialas und Genzmer angesprochen, warum ich eigentlich nicht Musiker werden wollte. Da habe ich gesagt: »Eigentlich will ich jetzt Mathematiker werden«. Dieser Umgang mit der Neuen Musik hat mich so erfüllt und fasziniert, dass ich plötzlich wieder einen neuen Zugang zur Musik gefunden habe – als Beruf.

Parallel liefen gerade die Semester drei und vier in Mathematik. Das sind die schlimmsten, nämlich die rein numerischen, wo Sie nur Zahlen rechnen müssen, und das fand ich so entsetzlich langweilig, dass ich mich letztlich doch entschlossen habe: »Ich mache Musik«. Ich habe diesen Weg dann abgeschlossen. Bereits mit 23 Jahren bekam ich meine erste Stelle in Köln, habe parallel noch in Detmold weiterstudiert. Und dann lief der Weg im Orchester 30 Jahre lang, von Köln nach Berlin – mit Aushilfen schon ab 1977 bei Karajan, ab 1980 als fester Solo-Oboist. Aber für mich habe ich nie die Kategorie Orchestermusiker akzeptiert. Es gibt für mich keine Schubladierungen – die gibt es nur in den Köpfen der Kritiker und Feuilletonisten. Es ist so, dass ein Musiker Musiker ist, und er spielt eben im Orchester, oder spielt Kammermusik, oder spielt beides, oder spielt das und jenes. Jeder Musiker versucht möglichst viel Musik zu machen. Ich sehe mich als Musiker. Ich bin nicht bereit, mich kategorisieren zu lassen.

MS: Dennoch glaube ich, dass die Erfahrung, in einem tollen Orchesterapparat so lange Solo-Oboe gespielt zu haben, doch ein bisschen auf den Dirigenten Hansjörg Schellenberger rückspiegelt.

HS: Ja, das ist Grundlage. Es war für mich eine faszinierende Zeit, als Musiker in dem Orchester. Ich habe Dirigenten kennengelernt, die ich sonst nie kennengelernt hätte. Ich konnte Interpretationen vergleichen, weil ich immer im Bewusstsein mit dem ganzen Werk gelebt habe – immer wenn wir eine Symphonie gespielt haben, hatte ich eine Partitur dabei. Vor allen Dingen in der Zeit nach Karajan habe ich vieles erlebt: unterschiedliche Dirigenten, wie Harnoncourt – aber die Karajan-Zeit war natürlich sehr prägend. Dann kam eine Phase, als ich mich während der Berliner Zeit mit einem eigenen Ensemble, dem Haydn Ensemble Berlin, um das Werk des frühen Haydn gekümmert habe. Das war für mich die Grundlage des Dirigierens heute, denn Haydns Musik ist gewissermaßen die Grundlage der gesamten Musik bis heute, was die Symphonik betrifft.

MS: Es gibt künstlerische Herausforderungen, und es gibt sicherlich in der Zusammenarbeit mit dem Orchester auch soziale Herausforderungen an den Dirigenten?

HS: Ja, Dirigieren ist zu einem Teil natürlich ein musikalisch-konzeptioneller Beruf, aber es ist vor allen Dingen auch ein psychologischer Beruf. Er hat nämlich damit zu tun, dass Sie Menschen motivieren müssen, mit Ihnen gerne Musik zu machen. Daneben muss ich als Musiker mit einem vollkommen überzeugenden Konzept kommen, muss wissen, was ich will, muss auch bereit sein, mir anzuhören, was andere denken, auch vom Orchester durchaus Kritik nicht nur ertragen können, sondern sie haben wollen. Man muss auch verstehen, was innerhalb eines Orchesters gruppenpsychologisch abläuft, denn ein Orchester ist eine ganz besondere Konstruktion. Sie müssen sich vorstellen: Sie üben einen Beruf aus, und Sie haben nicht ein Büro und ein Vorzimmer, sondern Sie sitzen da, und neben Ihnen sitzt Ihr Kollege, der aber nicht Ihr Freund sein muss, und mit dem Sie zusammenarbeiten müssen, aber nicht nur zusammenarbeiten, sondern auf den Augenblick zusammen funktionieren – Sie sind aufeinander angewiesen. Im Orchester setzen sich gruppenpsychologische Mechanismen in Bewegung, die eben nur dort stattfinden.

TH: Die Vielfältigkeit, die Sie auszeichnet, zeigt sich auch in einer großen Bandbreite an Repertoire. Um den Bogen zu schließen, kommen wir zurück zu dem Konzert der Camerata, das mit dem Titel »Faszination Orient« überschrieben ist, einem Titel aus den Reihen der Camerata. Stört es Sie, wenn das so vorformuliert ist, oder können Sie sich da einfügen?

HS: Vorgegebene Strukturen sind eine Herausforderung, die Fantasie zu bewegen, sich darauf einzulassen. Ich finde es sehr reizvoll, wenn im Dialog etwas entsteht, das dann gemeinsam zu einem Ergebnis führt. Deswegen ist eine Reihe mit einem Orchester, das mit verschiedenen Dirigenten an demselben Thema arbeitet, wirklich spannend und sehr sinnvoll.

MS: »Faszination Orient« – nun, eine Japanerin das zu fragen ist natürlich etwas eigentümlich, weil sich die Perspektiven verschieben: Sie leben schon sehr lange in Europa, und da relativieren sich die Sichtweisen Orient – Abendland. Wie haben Sie den Austausch der Kulturen erfahren – aus dem fernen Osten kommend, als Studentin zunächst in Deutschland und dann in Salzburg?

YK: Ich bin mit im Alter von zehn Jahren nach Deutschland gezogen, mitten in meiner Grundschulzeit. Dieser Kulturwechsel war für mich sehr schwierig; die Mentalität ist anders. In Japan war ich auch auf einer Musikschule und auf einer Grundschule, und in beiden Schulen hatte ich das Gefühl, dass Regeln vorgeschrieben wurden, wie zu spielen ist. Man wird nicht gefragt: „Wie möchtest du das machen, und welche Ideen hast du?“ Ich habe, nachdem ich hierher gezogen bin, viel mehr Freiheit gewonnen, meine Persönlichkeit zu entwickeln. Das habe ich auch an der Grundschule gesehen, wo die Kinder frei ihre Meinung äußern und es zu einer richtigen Diskussion kommen kann. In Japan machen wir das auch, aber im Prinzip müssen wir letztendlich immer auf eine gemeinsame Meinung kommen.

MS: Es besteht glaube ich, schon in der künstlerischen Ausbildung stärker ein Prinzip der Imitation – dass im japanischen Bereich der Lehrer als Vorbild dasteht und seine künstlerische Vorstellung als Ideal im Mittelpunkt steht. Oder ist das zu einseitig gesehen?

YK: Es gibt natürlich verschiedene Lehrer, aber ja, man sieht den Lehrer als Vorbild. Es kommt nicht zu einem Gespräch, sondern der Lehrer sagt: „So hast du zu spielen“. Man muss auch selber nachdenken, was passiert, und hier wird man dazu gebracht, jede einzelne Phrasierung oder auch Vorstellung zu erklären, und gerade das finde ich sehr wichtig.

MS: Aus Ihrem Kulturkreis kann man aber auch sehr viel Positives mitnehmen.

YK: Ja, das Positive war, dass man in Japan schon in sehr früher Kindheit nicht nur Klavier, sondern auch Singen und Harmonielehre lernt. Dass ich das sehr früh mitbekommen habe, hat mir sehr geholfen. Beide Kulturen sind für mich gleich wichtig.

MS: Herr Schellenberger, Sie kennen den japanischen Kulturkreis durch viele Tourneen. Für Sie ist „Faszination Orient“ auch mit dem türkischen Kulturkreis verbunden. Sie arbeiten auch mit einem türkischen Orchester sehr intensiv zusammen. Wie erleben Sie das?

HS: Wir als Musiker bilden eine Art von Diaspora und sind, wo immer auf der Welt wir uns sehen, relativ ähnlich. Ob das in der Türkei, oder in Shanghai, oder in Tokio ist – Musiker als Profis sind in einer bestimmten Weise ausgebildet, um klassische Musik spielen zu können, und da gibt es eine gemeinsame Ebene.

Es gibt aber auch Unterschiede: Wenn Sie zum Beispiel ein Konzert in Izmir dirigieren und eine dreistündige Probe haben, dann gibt es nach einer Stunde eine Pause von 45 Minuten, weil man dort erst einmal Tee trinkt und sich in aller Ruhe unterhält. Es hat keinen Sinn, zu versuchen, nach einer halben Stunde das Orchester wieder zurückzuholen. Also müssen Sie versuchen, Ihre Proben so einzuteilen, dass Sie mit den 45 Minuten Teetrinken klarkommen. Die schöne Seite ist, dass man in dieser Zeit auch viel mit den Musikern reden kann. Ich habe das erst lernen müssen, weil ich eine andere Form der Einteilung und vielleicht auch der Disziplin gewöhnt bin.

In Japan fasziniert mich immer besonders die große Hinwendung des japanischen Publikums zu unserer klassischen Musik und die Bereitschaft, klassische Musik aufzunehmen. In vielen Dingen ist das Publikum rezeptionsbereiter, auch vorbereiteter. Ich finde das jedes Mal wunderschön, wenn ich in Japan Musik machen kann.

TH: Heißt das, dass Sie in Japan auch sehr große Konzertsäle erwarten?

HS: Genau. Wir haben im Schnitt Konzertsäle mit über 2000 Plätzen, und die sind gut gefüllt, wenn wir kommen.

TH: Nun fußt Ihre Zusammenarbeit mit der Camerata schon auf einiger Erfahrung, sowohl bei Yu Kosuge, als auch bei Ihnen, Herr Schellenberger. Ist noch etwas da von dem sprichwörtlichen „Camerata-Klang“? Hört man noch einen Sándor Végh dirigieren, wenn sie spielen?

HS: Ich glaube, eine Prägung durch einen Dirigenten gibt es nur in dem Moment, in dem er da ist. Ein Orchester nimmt das an, was ein Dirigent als Konzeption erarbeitet, und wenn jemand so lang da ist wie Karajan in Berlin oder Sándor Végh bei der Camerata, dann entwickelt sich eine gemeinsame Sprache, die natürlich der Ästhetik dieses Menschen entspricht. Das heißt aber nicht, dass ein Orchester dann so klingt, sondern das Orchester hat angenommen, was der Dirigent über Jahre hinweg erarbeitet hat.

Es gibt zum Beispiel bei Sándor Végh ein typisches Phänomen: Er hat sich unheimlich um ungewöhnliche Stricharten bemüht, die musikalisch sehr wirksam waren. Die Camerata war immer ein sehr bewegliches, auf sehr hohem Niveau spielendes Orchester, ein Orchester mit einem hohen Maß an Eigenverantwortung und einem hohen Maß an Bereitschaft, sich zu fordern. Dieses Erlebnis hatte ich bei jeder Begegnung.

Ich kenne so etwas aus Berlin sehr gut. Berlin ist auch eines der wenigen selbstverwaltenden Orchester. Da merkt man einfach, dass es immer besser ist, wenn Musiker den Raum finden, sich selbst zu bestimmen, selbst Verantwortung zu übernehmen und dabei gut gemanagt werden. Das führt dazu, dass die Camerata – das muss ich einfach sagen, ich erlebe es gerade wieder bei den Proben – sicher eines der weltbesten Kammerorchester ist.

MS: Sie haben Ihre Pädagogentätigkeit an der Musikhochschule Reina Sofia angesprochen. Der Pädagoge Hansjörg Schellenberger, das ist auf der einen Seite natürlich der Pädagoge auf der Oboe. Ist man auch als Dirigent Pädagoge?

HS: Ich nicht, nein. Ich habe bisher nur einmal kleine Seminare gehalten. Ich sage immer, beim Dirigieren bin ich selbst noch Lernender. Es ist noch zu früh dafür, dass ich als Dirigent Professor sein möchte. Als Oboist habe ich, glaube ich, ausgelernt und kann heute den Studenten konzeptionell so helfen, dass ich sofort weiß, wo ich eingreifen muss. Es ist eine hohe Verantwortung, die Sie als Lehrer eingehen. Sie dürfen nicht etwa nur Ihre Gewohnheiten tradieren und sich präsentieren, sondern Sie müssen versuchen, auf die Persönlichkeit und die Situation des Einzelnen einzugehen und dem etwas mitzugeben. Man sollte so weit sein zu wissen, was gute und was schlechte Technik ist. Und man braucht ein langes Leben, um das zu begreifen.

MS: Sie sehen den Moment, in dem man eingreifen sollte und auch den Moment, in dem man vielleicht nicht eingreifen und etwas sich persönlich entwickeln lassen sollte.

HS: Als Pädagoge, als Lehrer, sollte man die Eitelkeit aus dem Zimmer schicken, weil sie den Blick auf den anderen verstellt. Sich selbst vor dem Schüler darzustellen ist überflüssig. Wenn ich schon vor dem Schüler spiele, dann muss ich so spielen, dass er etwas davon hat. Das heißt, dass ich zum Beispiel sage: „Schau, bei dieser Phrasierung stimmt deine Atmung nicht, und du kommst nicht bis zum Ende der Phrase, weil du in dem Moment nicht richtig gestützt hast“. Das muss man zeigen können, und man darf nicht das Gefühl haben: Ich bin hier der tolle Lehrer, der Künstler, der irgendetwas zeigt – und dann wird schon etwas dabei herauskommen. Das reicht mir nicht.

TH: Sie haben zu mir gesagt, dass es Ihnen ein großes Anliegen ist, etwas vom Umgang mit Musik weiterzugeben. Ich denke an die Arbeit mit dem Orchester aber auch an Ihre Erfahrung in der vielgliedrigen Rolle als Solist, Kammermusiker, Dirigent. Wie, würden Sie sagen, soll ein Publikum heute mit Musik umgehen?

HS: Ich glaube, ein Publikum nimmt Musik auf, und es gibt viele Möglichkeiten, Musik aufzunehmen. Musik ist eine Kommunikationsform, die in einem hohen Maß auf Emotionen beruht. Ich muss als Musiker versuchen, so schlüssig zu spielen, dass ein Eingang in das, was ich mache, für das Publikum möglich und einfach ist. Das gilt für alle Musiker – ob sie spielen oder dirigieren. Auch wenn ich noch so dissonante, sehr intellektuelle Musik spiele, muss ich in der Lage sein, Emotionen mitzubringen und diese Emotionen zu übertragen. Ich halte das für eine ganz grundlegende Angelegenheit.

Die zweite Sache, die mir sehr wichtig ist: Wir Musiker sind Dienende. Das heißt, unsere Aufgabe ist – wie das Wort ‚Interpret‘ sagt – eine übersetzende Aufgabe. Wir übersetzen das, was von einem Komponisten niedergeschrieben ist, damit es jemand hören kann. Man kann eine Partitur nicht hören, wenn man nicht professionell ausgebildet ist. Um das zu tun, muss ich das Stück verstehen, muss ich dem Komponisten folgen, muss versuchen, seine Sprache zu übersetzen und sie natürlich mit meiner eigenen Persönlichkeit in Einklang bringen. Aber ich muss mich – so sehe ich es – möglichst immer hinter den Komponisten stellen, nicht vor den Komponisten. Am Ende muss es die Musik alleine sein und nicht die Menschen, die sie machen, und nicht der Ort, nicht die Show. Die Musik alleine muss wirken – das ist der entscheidende Punkt.

TH: Yu, Sie haben Ihre großen Erfolge ohne den Sieg in einem internationalen Wettbewerb errungen haben. Das ist etwas Außergewöhnliches, glaube ich.

YK: Ich glaube, jeder hat einen anderen Weg, und mein Weg war und ist es, bei jedem Konzert mein Bestes zu geben. Für einige Leute sind Wettbewerbe auch gut, aber für mich war das einfach nicht der richtige Weg.

TH: Ist es nicht so, dass man mit einem Wettbewerb auch eine Art ‚Marke‘ bekommt?

YK:
Ich möchte kein Etikett!

HS: Es ist zweischneidig: Wettbewerbe produzieren nicht unbedingt die größten Musiker, sondern unter Umständen nur die besten Instrumentalisten. Es geht meistens eher zugunsten des Virtuosen aus und nicht zugunsten der großen Persönlichkeit, weil die Persönlichkeiten möglicherweise mit gewissen Fehlern behaftet sind. Dann wird etwas plötzlich nicht so perfekt gespielt, wie man sich das im Wettbewerb erwartet. Aber die Entwicklung des Musikers findet nicht über die Perfektion statt, sondern über ganz andere Kategorien.

TH: Yu, es ist für eine Pianistin eine gewisse Herausforderung, sich Mozart-Klavierkonzerten zu stellen, schon deshalb, weil Mozart Sie ziemlich viel alleine lässt. Sie arbeiten viel … nicht gegen das Orchester, aber doch alleine zum Orchester.

YK: Nein, ich würde sagen wir arbeiten zusammen. Ich denke auch bei Solosonaten von Mozart, dass man nicht nur die Klavierstücke kennen sollte. Man muss die Opern mitdenken; die spiegeln sich in den Klavierkonzerten wider, wie auch die Symphonien. Man sieht so viel von Kammermusik in den Mozart-Konzerten, so viele Dialoge mit dem Orchester. Das Klavier ist ein Instrument, das auch andere Instrumente imitiert. Ich denke dann: „Diese Melodie möchte ich singen wie eine Oboe d’amore“, oder „Das ist ein Tenor“, oder „Da kommt plötzlich der Papageno“.

TH: Sie schaffen auch diese Beziehung in Ihrem Spiel?

YK: Ja, und wenn man wirklich drin ist, denkt man sehr viel nach. Zu viel nachzudenken ist aber auch nicht gut. Diese Balance zwischen dem Kognitiven und dem Emotionalen finde ich gerade bei Mozart besonders schwierig.

HS: Mozart ist besonders schwer zu spielen, weil er der Komponist mit der größten emotionalen Vielfalt im gleichen Augenblick ist. Das heißt, alles, was er erlebt, erlebt er nicht als schwarz und weiß, sondern immer multivalent. Alles passiert in mehreren Richtungen. Das ausgewogen spielen zu können, erfordert entweder die Naivität eines Wunderkindes mit sieben Jahren oder die Erfahrung eines Menschen, der keinen Ehrgeiz mehr hat, der sowieso alles kann. Ich denke zum Beispiel an den alten Rudolf Serkin.

Aber das ist auch genau die Kunst, die ich bei Yu finde. Sie ist noch keine Greisin, sie ist auch kein Wunderkind mehr, aber sie spielt diese Musik mit einer solchen Selbstverständlichkeit – das ist ein unglaublich schwer zu erreichender Zustand. Zum Lachen kommt immer das Weinen, zum Schmerz die Freude – immer zugleich. Man kann nicht nur in eine Richtung denken, man muss versuchen, in eine Form der Selbstverständlichkeit, der Unbeschwertheit und des Wissens zugleich zu kommen.

Yu Kosuge spielt Mozarts Klaviersonate in C-Dur, KV 330, 1. Satz

HS: Wie Yu Kosuge gerade diese Sonate gespielt hat, da finden Sie etwas Ambivalentes, was für mich grundlegend ist für Mozart: Einerseits 100 Prozent klar zu spielen, also nichts zu verwaschen, nicht zu viel Pedal, nicht zu viel Weichzeichner hineinbringen. Und andererseits eine Form der – auch im Tempo – freien Agogik innerhalb der Phrasierung der Melodien, die man spielt, was sie meisterhaft beherrscht – dass es im Tempo Makrobewegungen gibt, die dann erst die Sprache ausmachen.

TH: Tempo ist eine Kategorie, die die Musikwissenschaft teilweise ‚verdorben‘ hat, indem sie sie zu absolut behandelt hat.

HS: Carl Philipp Emanuel Bach hat dafür plädiert, dass Musik aus sich selbst heraus, was die Tempi und die Abläufe betrifft, frei und beweglich sein muss. Sie muss sich als Sprache – so wie wir auch nicht immer gleich schnell sprechen – immer wieder neu definieren. Das gut zu machen, ist die große Kunst. Er hat aber nicht beschrieben, wie man das macht.

TH: Auch die Ästhetik der Zeit spielt eine Rolle. Aufnahmen der 1920er, 1930er haben einen grundsätzlich anderen Zugang dazu.

HS: Das ist das Spannende: dass Musik – ja, alle Kunst – durch Zeiten wandert, weil das die Menschen, die sie machen, reflektiert und auch die, an die sie sich wendet. Mozart würde sich heute sicher über manches wundern heute – wie wir ihn spielen.

MS: Ich denke, er wäre neugierig …

HS: Ja, neugierig war er sowieso. Und er war auch ein unruhiger Mensch. Das beweist schon die Tatsache, dass er an vielen seiner Werke später die Tempi durchgestrichen und schnellere darübergeschrieben hat. Er war einer, der in einer ständigen Rastlosigkeit immer wieder etwas neu gesucht hat und immer neu herausgefordert hat, herausgefordert sein wollte.

MS: Das ist auch ein Impuls, den Sie als ein Motto Ihrer Arbeit sehen.

HS: Ja, das ist ein wesentlicher Teil meiner Gedanken. Ich halte es mit dem, was Harnoncourt gesagt hat: „Jedes Werk ist für mich eine Uraufführung“. Das heißt, jedes Konzert, auch wenn du es schon sehr gut kennst, muss Überraschungen bringen und Lebendigkeit haben. Zu Mozarts Zeiten gab es nur zeitgenössische Musik, und die hat davon gelebt, dass sie Überraschungen gebracht hat. Diese Überraschungsmomente, die gerade Mozart stark ausgeprägt hat, waren ein wesentlicher Bestandteil.

MS: Das heißt, wir dürfen uns auf Uraufführungen freuen.

HS: Hoffen wir es, ja!

MS und TH: Vielen Dank!

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TATORT Kultur

Auszug aus dem Buch TATORT Kultur: Atelier Gespräche II (Salzburg: Verlag Anton Pustet, 2013)

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Verlages Anton Pustet und der Herausgeberin Sabine Coelsch-Foisner.

Weitere Informationen: www.pustet.at